Michael Haller rief das Projekt «Wheels of Motion» ins Leben. Nun organisiert er die bereits dritte Fahrradtour. Was motiviert ihn, und wo sieht er die Herausforderungen?
Wie bist Du auf die Idee gekommen, ein Projekt wie Wheels of Motion auf die Beine zu stellen?
«Das Fahrradfahren kann befreien und inspirieren. Negative Gefühle lassen sich auflösen und zerstreuen. Darüber hinaus fördert die Bewegung das klare Denken; abseits der festgefahrenen Pfade werden die Sinne geschärft, der Blick frei auf Wesentliches. Das führte zur Idee, eine Velotour zu unternehmen mit Menschen, denen man eine solche Tour vielleicht nicht zutrauen würde. Es ist ein Erfolgserlebnis, wenn man mit eigener Kraft auf dem Lukmanier- oder Albulapass ankommt und auf eine intensive mehrtägige Tour über anspruchsvolle und malerische Wege zurückblicken kann.»
Also etwas fürs Selbstvertrauen?
«Ein junger Mann sagte bei der letzten Tour: „Das hätte ich mir nicht zugetraut.“ Genau darum geht es: Wir wollen festgefahrene Glaubenssätze aufbrechen. Solche Erlebnisse in der Gruppe zu teilen, mit Menschen mit Schwierigkeiten, und ihnen so zu mehr Selbstvertrauen und Gemeinschaft zu verhelfen, das ist reizvoll.»
Was sind die grössten Herausforderungen?
«Zuoberst steht das Ziel, alle gesund und glücklich ans Ziel zu bringen. Das Dabeisein soll guttun und keine dauerhafte Belastung sein. Wir tasten uns an die Grenzen heran, um sie zu verschieben. Stets die richtige Dosis zu finden und das Individuum wahrzunehmen, das ist anspruchsvoll. Das funktioniert nur mit einer intensiven Vorbereitung und strengen Haltung. Wir trainieren regelmässig zusammen, beziehen situativ das Umfeld mit ein und betonen, dass sich alle auch im Privaten vorbereiten müssen. Wenn wir merken, dass es eng wird oder jemand dazu neigt, sich zu sehr zu verausgaben, oder wenn wir feststellen, dass sich jemand zu wenig verbindlich auf die Gruppe einlässt, müssen wir eingreifen.»
Habt ihr auch schon Leute aus dem Projekt ausschliessen müssen?
«Ja. Gut ist, dass sie selbst gemerkt haben, dass es nicht oder noch nicht reicht. Es versucht zu haben: Auch das ist ein Erfolg. Wir sind offen für alle und möchten allen eine Chance geben. Am wichtigsten ist aber der Schutz der gesamten Gruppe.»
Was hast Du von der letzten Wheels-of-Motion-Tour lernen können?
«Ich habe einmal mehr erlebt, wie die Bewegung und das Vorankommen guttun. Besonders fällt mir auf, dass alle ihre Stärken und ihre Schwächen haben. Auch wir Leiter sind nicht perfekt – und dazu kann ich mehr denn je stehen. Einmal mehr mussten wir leider akzeptieren, dass nicht alles in unseren Händen ist: Der Strassenverkehr ist unberechenbar; als Velofahrer gehörst Du zu den schwächeren. Darum sind wir so oft es geht auf Velo- und Naturwegen unterwegs.»
Welche Erwartungen hast Du an die Teilnehmenden?
«Absoluter Einsatz ist nötig. Verbindlichkeit ist wichtig, Ehrlichkeit sich selbst und der Gruppe gegenüber. Das zeigt sich im regelmässigen Training, bei den Ausfahrten und in der privaten Vorbereitung. Ich erwarte also, dass alle ihr Bestes geben. Ich erwarte aber auch, dass alle jederzeit im Klaren über ihren Kräftehaushalt sind. Im Vitaltraining haben wir mehrfach das Nein-Sagen geübt: Es ist keine Schande, auch mal zu sagen: Ich kann jetzt nicht mehr, stopp.»
Lernt man in einem solchen Projekt für sich selbst einzustehen?
«Mich dünkt, man lernt sich selber besser kennen. Auf einem mehrstündigen Anstieg den Pass hinauf, wenn Du an der Grenze bist und Du dich fragst, ob das kein Ende nimmt, kann es sein, dass Du viel Vernebeltes, Verdrängtes oder Vergessenes klarer siehst; es holt Dich ein oder will Dich gar überholen. Oder positiver: Du spürst das Gute, bist beseelt und im Einklang mit Dir und den Elementen. Eine komfortable Leere, in der alles und nichts gilt. Das Kopfkino läuft auf Hochtouren, unsere Kanäle sind offen, das Kreative und Rationale in einer Wechselwirkung, angefeuert durch das rhythmische Links-Rechts-Links, das von den Füssen bis in den Kopf geht.»
Welche Fortschritte und Veränderungen konntest Du bei den Teilnehmenden beobachten?
«Einige sind strenger mit sich selber geworden, ehrgeiziger, selbstbewusster. Auch Freude ist spürbar – stolz, es schon so weit gebracht zu haben und Teil dieses Teams zu sein. Einige sind auch gelassener, befreiter: Sie wissen besser, was Sie können, und gehen es mit Ruhe und Fokus an. Besonders fällt auf, dass eine starke Gruppe zusammengewachsen ist. Es sind unterschiedliche Typen, die aufeinander achten und einander respektieren.»
Was sind Deine schönsten Erlebnisse mit Wheels of Motion?
«Auf einer Passhöhe anzukommen oder ein Etappenziel zu erreichen und zu sehen, was das den Einzelnen bedeutet: Das ist etwas Spezielles. Besonders beeindrucken mich die Reaktionen der Angehörigen an unserer Schlussfeier: Da blicken wir mit Fotos und Filmen auf das Geleistete zurück und ehren die Teilnehmerinnen und Teilnehmer. Eltern, Geschwister und Freunde sehen, was ihre Liebsten vollbracht haben. Das ist das Schöne an diesem Projekt: Es tut gut und das Gute führt zu noch mehr Gutem. Kein Ellbögeln, kein Verdrängen, kein halbstarker Wettbewerb, sondern einfach die geteilte Freude über die herausragenden Leistungen von Menschen, die am eigenen Leibe erfahren haben: Es ist oft mehr möglich als man denken mag.»
Wie blickst Du der Tour 2024 entgegen?
«Ich habe letzte Woche Ferien genommen, um die Tour zu rekognoszieren. Viele Etappen waren mir bereits vertraut, besonders auch der Albula-Pass, aber am Stück habe ich’s noch nicht durchgezogen. Es ist streng, viel Auf und Ab, und oft kommen die anspruchsvollsten Abschnitte erst am Ende der Etappe. Ein Beispiel: Von Lenzerheide nach Weesen sind es rund 90 Kilometer, und dann stehst Du in Weesen und blickst den Berg hinauf Richtung Amden. Da musst Du hoch, weiter rauf nach Arvenbüel. Das ist nicht nur körperlich anstrengend, sondern auch mental. Du bist schon müde und musst jetzt noch die Kräfte bündeln für den letzten grossen Anstieg. Und morgen geht’s weiter, nochmals so streng.»
Kann’s zu viel werden?
«Das hängt von vielen Faktoren ab. Wir trauen den Leuten viel zu, möchten es aber nicht auf die Spitze treiben. Die Sicherheit und Gesundheit gehen vor, immer. Wenn jemand am Limit ist, ist ein Umsteigen ins Begleitfahrzeug angesagt: Luft holen, durchatmen und raschmöglichst wieder aufs Velo steigen. Das kommt selten vor, ist aber eine Sicherheitsmassnahme, ohne die ich es nicht machen wollen würde.»
Wie siehst Du die Zukunft von Wheels of Motion?
«Ich kann mir vorstellen, dass daraus eine Bewegung wird: Unsere Gruppe bricht auf zu einer anderen, die ihrerseits losfährt, um eine weitere Gruppe auf die Reise zu schicken und so weiter, ein Flächenbrand mit Fahrrädern. Wobei wir nicht nur ans Velo denken sollten. Zu Fuss oder auf dem Wasser ist auch viel möglich. Das könnte eine Perspektive sein, um noch mehr Leute zu involvieren. Vorerst aber bleiben wir beim Velo; die dritte Tour steht bevor und wir spüren viel Zuspruch und freuen uns, dass eine starke Gruppe zusammengewachsen ist.»